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Christiane Meyer-Stoll
Interview mit Birgit Werres

in: „Sammlung Rolf Ricke, ein Zeitdokument“
Kunstmuseum St. Gallen, Kunstmuseum Liechtenstein, MMK Frankfurt a.M.
2007

Wissen Sie noch, wie Sie Rolf Ricke kennengelernt haben?

Ja, das kam über das Stipendium der Stiftung „Kunstfonds“. Rolf war damals in der Kommission, 1989 muss das gewesen sein. Er rief mich an und sagte, dass er mich gerne besuchen würde. Dann kam er auch relativ bald ins Atelier, hat die Arbeit mit den Gasbetonstelen (Ohne Titel #1/88, 1988/2002) gesehen und wollte sie haben.

Relativ kurz danach kam es auch schon zu einer Ausstellung?

Ja, er hat 1989 die Ausstellung „Aus meiner Sicht“ im Kölnischen Kunstverein realisiert und wollte dort auch Arbeiten von mir zeigen. Im Januar 1990 war bereits die erste Einzelausstellung. Ricke hat damals gelegentlich mit Sandra Gering zusammengearbeitet und einen Teil der Ausstellung dann nach New York vermittelt. Das war auch schon 1990.

Zu dieser Zeit bin ich über Jahre hinweg immer wieder zu einem stillgelegten Güterbahnhof in Duisburg-Rheinhausen gefahren. Man kann im Grunde sagen, dass fast das gesamte Material für die Arbeiten der Ausstellung 1990 bei Rolf Ricke von dort stammt. Der Güterbahnhof war ein ganz wichtiger Ort für mich.

In Rheinhausen befanden sich die Stahlwerke.

Ja, das ist jetzt schon richtig historisch. Ich bin neulich in Saarbrücken gewesen, und es war eine Art „déjà vu“, zeitversetzt, wie fast 20 Jahre zurück. Dort sieht es jetzt so aus wie damals in Duisburg. Mich interessiert ja nicht nur das Material, sondern auch der Strukturwandel.

Können Sie sich entsinnen, wie die erste Ausstellung entstanden ist?

In diesem Jahr hatte ich sehr viele Arbeiten gemacht. Das lag mit Sicherheit daran, dass dieser Ort so ergiebig war. Aus diesem Fundus von Werken haben wir dann die Ausstellung zusammengestellt. Rolf hat immer mit entschieden. Ich fand das damals klasse, alles von der Pieke auf von ihm lernen zu können. Ich war ja ganz jung, gerade mit dem Studium fertig. Von daher bin ich durch ihn da so richtig hineingewachsen. Ich habe sicher ein ganz anderes Verständnis von einem Galeristen und ein ganz anderes Berufsbild als viele meiner Kollegen.

Ja, weil es um den Inhalt und die Arbeiten geht.

Das war der Hauptpunkt. Und auch die Begeisterung, die Rolf immer hatte. Wenn er ins Atelier kam, hatte er sofort eine Idee und es ging dann ganz schnell, man hat nicht jahrelang geplant. Gelb, Rot, Blau etwa ist während der Planung für meinen Raum im Kunstmuseum Bonn (2000) aus dieser spontanen Begeisterung heraus entstanden. Im Atelier hatte ich eine gelbe, eine rote und eine blaue Wandarbeit installiert. Das hat ihn an irgendwas erinnert, aus irgendeiner Zeit, und er meinte, Mensch, das muss man machen, das bauen wir jetzt in der Galerie im kleinen Raum auf. Rolf hat dort immer noch etwas zusätzlich zu jeder Ausstellung gezeigt. Das war einfach die Möglichkeit, spontan etwas machen zu können. So etwas hat er oft auch erst am Tag vorher entschieden.
Rickes Spontaneität zeigte sich zum Beispiel auch bei der roten Wandplastik mit den Paketbändern in Kunststofffolie, die sich auch in der Sammlung befindet (Ohne Titel, 1998). Diese Arbeit hatte er im Atelier gesehen und fand sie so toll, dass er sie für sich haben wollte. Sie war gerade erst fertig geworden. Sie ist dann nie irgendwo anders gezeigt worden, weil er sie direkt zu sich nach Hause mitgenommen hat.

Die Arbeit mit den Gasbetonstelen Ohne Titel #1/88, 1988/2002 weist zwei Entstehungsdaten auf?

Die Arbeit wurde 2002 restauriert. Ricke hatte sie auf dem Dachboden gelagert, und da sind die kleinen Kunststoffklammern, die oben drauf befestigt waren, verloren gegangen. Ich bin damals häufig nach Maastricht und Belgien gefahren und habe Ersatzteile gesucht, aber sie waren nicht mehr aufzutreiben. Deshalb habe ich die ursprüngliche Zahl von sechs Stelen auf vier reduziert. Für mich hat das nach wie vor gestimmt.

Können Sie noch etwas über Ihre Arbeit Ohne Titel #15/89, 1989 sagen? Es wirkt wie eine „Teermatte“ oder?

Es war sehr schön, diese Matte herzustellen. Das kam noch ein bisschen aus der Akademiezeit. Da habe ich viele Experimente gemacht. Mit Gips, mit Holzwolle, mit Kasein und solchen Verbindungen. Der Leiter der Holzwerkstatt hatte mir davon erzählt, dass man aus Kaseinmischungen ganz harte Verbindungen und richtige Formen herstellen kann. In der Zeit habe ich sehr viel mit Holzstämmen, mit fest eingegossenen Formen gearbeitet. Ich fand es immer sehr interessant, selbst Mischungen herzustellen. Bei dieser Arbeit habe ich eine Art Brei aus Holzwolle, Kasein, Gips und Pigment angerührt und diese Masse dann auf die Matte gestrichen, die dann aufgerollt wurde.

Die Arbeit erinnert ja auch so ein bisschen an eine Biskuit-Rolle, hat aber auch etwas von einem aufgerollten Teppich.

Mir ging es natürlich auch um diese Struktur, dieses Gerollte, dieses Rausgequetschte, das quillt ja richtig raus. So etwas habe ich oft verwendet. Das ergibt sich beim Arbeiten, das habe ich nicht schon vorher alles klar im Kopf, wie etwa bei einer Aussenskulptur, bei der alles vorab geplant sein muss. Ich mag es sehr, wenn sich etwas erst im Lauf des Arbeitsprozesses ergibt. Der Ausgangspunkt sind immer die Materialeigenschaften. Ganz oft entwickelt sich etwas dann in eine ganz andere Richtung, und gerade das finde ich auch so spannend daran. Alles andere wäre mir sonst zu trocken.

Ihre Arbeit von 1998 hat einen ganz anderen Charakter. Sie ist eher wie eine Art Hülle für etwas. Hier steht das Prozesshafte weniger im Vordergrund.

Ja, das stimmt. Diese Arbeit fällt überhaupt sehr raus. Das hat auch Lillian Ball gesagt. Mit ihr hatte ich einen ganz intensiven Austausch über Jahre hinweg. In der Anfangszeit hatten wir einen sehr ähnlichen Blick und sehr ähnliche Handhabungen. Damals war Lilian hier im Atelier und sie meinte, dass die Arbeit aus meinem übrigen Werk total herausfallen würde, weil das eben so eine Hülle ist, und die Form sich durch das Stopfen ergibt.

Das Interessante war, dass sich diese Arbeit aus der Idee heraus entwickelt hat, einen Hocker zu bauen. Ich habe ein Brett genommen und Holzklötze daruntergesetzt. Ich wollte dann etwas „drauftackern“, wie bei diesen kleinen gepolsterten Fussbänkchen. So hat sich diese Arbeit ganz eigenartig entwickelt. Ich habe zunächst versucht, dieses und jenes Material „draufzutackern“. Dann entdeckte ich diese farbig transparente Folie, das war in der Zeit des Kunstraums 1999.

Sie sprechen von Ihrer Austellung im Kunstraum Düsseldorf?

Ja, dafür hatte ich zum ersten Mal fertiges Material bestellt, um eine grosse Installation zu machen. Und so kam ich auch auf das Schweissen und Stopfen von Hüllen. Das habe ich bei dieser Ausstellung ausprobiert.

Für das Innere, was haben Sie da als Füllmaterial verwendet?

Es sind Verpackungsbänder, die ich über Jahre hinweg aus Containern gezogen habe. Die Struktur und Farbigkeit gefielen mir. So hat sich diese Arbeit über einen langen Zeitraum hinweg entwickelt. Es war ja zunächst eine Bodenarbeit, und der „Kick“ bestand dann darin, sie an die Wand zu bringen. Und das war's dann eben. Dieser Abstand zur Wand, diese Halterung und dieses Aufgeblähte, diese aufgeblähte Hülle.

Das heisst die Arbeiten stehen im Atelier und werden bearbeitet, durchlaufen verschiedene Phasen. Entwickeln Sie auch Arbeiten parallel zueinander?

Ja, das passiert ganz häufig. Oft komme ich während des Arbeitens schon auf den nächsten Gedanken. Es kommt vor, dass ich dann neue Assoziationen habe und plötzlich etwas ganz anderes machen will.

Ich habe aber den Eindruck, dass das Umherstreifen und Entdecken, die Suche nach Materialien, ebenfalls bereits Teil Ihrer Arbeit ist. Sie beobachten, was „draussen“ stattfindet, und dann fliesst das plötzlich zusammen.

Ja, das ist ein ganz wichtiger Aspekt, dieses Zusammentragen, diese Mobilität. Ich war immer mit dem Fahrrad in Industriegebieten unterwegs und habe mein Material dort gefunden.
Vom Herbst 1987 bis zum Frühjahr 88 war ich zu einem Studienaustausch in Maastricht an der Jan van Eyck Akademie. Ich war erstaunt, aber auch enttäuscht dass es in den industriellen Gebieten dort für mich nichts zu finden gab. Alles war abgeriegelt, es gab nichts zu sehen.
Auf der Suche nach Material bin ich dann durch die Geschäfte gezogen. Vor allem in Belgien. Da gab es Dinge, die kannte ich so noch nicht. Zum Beispiel ganz tolle Briefkästen, mit denen ich dann eine Arbeit gemacht habe. Das hat mich sehr begeistert. Überhaupt habe ich damals zum ersten Mal mit gekauftem Material gearbeitet. Dadurch hat sich meine Arbeit verändert.
Ursprünglich habe ich eigentlich nur mit gebrauchten Materialien gearbeitet. Heute sieht die Landschaft ganz anders. Mit verantwortlich dafür ist das Aufkommen des Recycling. Wo alles in den Produktionskreislauf zurückfliesst, bleibt nichts mehr liegen. Das war eine ganz einschneidende Entwicklung für mich. Früher bin ich zum Beispiel nie in die Industriemessen hineingegangen, sondern war immer ausserhalb, weil nach dem Abschluss der Messe immer viel weggeworfen wurde, all diese Exponate aus den vorgeführten Produktionen oder pures Material. Das hat sich geändert, weil die Messeleitung die Entsorgung an die Recycling-Firmen übergeben hat, und die haben dann alles völlig abgeschottet. Das Material kommt direkt nach der Messe in Container, das ist fast wie ein Hochsicherheitstrakt. Da komme ich als Künstler nicht mehr hinein, zumindest nicht offiziell.

Was für eine Vorgehensweise hat sich dadurch für Sie entwickelt?

Ich musste andere Wege finden. Das Projekt mit Kunstgeschichtsstudenten in Gießen etwa ermöglichte es mir, direkt in die Betriebe, in die Produktionsstätten hineinzugehen. Das ist dann auf eine andere Weise total interessant, weil man dadurch wieder Sachen entdeckt, die man sonst nicht sehen würde. Ich habe z.B. Arbeiten mit Rohrstücken gemacht, die noch verformbar sind, direkt wenn sie aus der Maschine kommen.

Zum Schluss möchte ich noch fragen, ob es ein Umfeld der Galerie Ricke gab, durch das Kontakte entstanden sind oder ein Austausch stattfand?

Ja, in den letzten Jahren immer wieder mit David Reed. Die meisten Kontakte hatte ich zu Künstlern in New York: Tom Merrick, Jeffrey Wisniewski, Matthew McCaslin. Es war eine tolle Zeit. Auf einem Kunstmarkt, ich weiss nicht mehr in welchem Jahr, schlug Rolf (Ricke) vor, dass Matthew McCaslin, Tom Merrick und ich den Stand gestalten sollten. Das war wieder so eine ziemlich spontane Idee von ihm. Ich glaube aber, das war auch schon ein bisschen eine Antihaltung zur Art Cologne, weil er nicht so eine für den Kunstmarkt typische Präsentation von Arbeiten machen wollte. Es ist eine wunderbare Installation entstanden. Wir haben ein paar Tage zusammen gearbeitet und sind in Kontakt geblieben. Speziell mit Tom und Jeffrey habe ich in New York eine super gute Zeit verbracht.

Magdalena Kröner
„Klasse Kamp 1974-2006“

veröffentlicht in der Publikation anlässlich der Ausstellung
2006

Ausgehend von frühen skulpturalen Konglomeraten aus Eisen und Holz hat Birgit Werres seit einigen Jahren industriell gefertigte Kunststoffe zu ihrem Hauptmedium gemacht. Sie nähert sich als unvoreingenommene Sammlerin den Produktions- und Lagerhallen der Gummi- und Kunststoffverarbeitenden Industrie, wobei sie sich von den Eigenschaften der vorgefundenen Materialität in ihrer Suche leiten läst. Werres nutzt etwa Schutzund Verpackungsfolien, Späne, Rohre, Gummibänder, aber auch unperfekte „Anfangsstücke“ aus der Produktion von Kunststoffrohren. Sie nobilitiert diese, in durchstrukturierten industriellen Produktionszusammenhängen anfallenden Materialien, die häufig „Ausschuß“ oder „Reststücke“ sind, durch das Zusammenfügen zu autonomen Körpern von hoher taktiler Präsenz. Die Umwidmung profaner Gegenständlichkeit vollzieht sich in Reihungen, Schichtungen oder Materialverbünden. In ihren minimaIistischen Arbeiten führt Werres zudem immer wieder formale Charakteristika wie Volumina, Texturen und Strukturen vor. Ein weiteres wichtiges Element ihrer Arbeit ist die oft signalhafte Eigenfarbigkeit der verwendeten Materialien. Deren Farbgebung schafft eine Qualität, die der häufig monumentalen Körperlichkeit der Objekte zuwiderläuft und Herkunft, Funktion und Eigenschaften des Materials zusätzlich verrätselt. Ausgehend von einerspannungsvollen Wechselwirkungaus Farbe, Anordnung und Texturentwirft Werres immer wieder plastische Verfaßtheiten zwischen Organik und Geometrie. Nicht zuletzt ironisieren die Skulpturen von Birgit Werres die seit der Moderne verankerte Vorstellung des erhabenen skulpturalen Körpers und seiner notwendigerweise kostbaren Materialität.

Irene Kleinschmidt-Altpeter
„Birgit Werres – Vom Objekt zur Skulptur“

in: „Kunstmuseum Bonn, Ein populärer Führer“
2000

Birgit Werres verändert industriell vorgefertigte Dinge durch heterogene Kombinationen unter Einbeziehung von selbst hergestellten Elementen. Sie findet ihre Materialien auf den Lagerplätzen und in den Produktionsstätten der Industrie, die sie immer wieder besucht, um auf Dinge zu stoßen, die ihr ästhetisches Interesse wecken. Ihre Wahrnehmung ist, beginnend mit ihrem Akademiestudium bei Tony Cragg, langjährig geschult. Inzwischen ist über den Prozess des beiläufigen Findens und der anschließenden Veränderung ein beachtliches OEuvre zustande gekommen.

Die Folien oder Baumaterialien aus Kunststoff, die Werres verwendet, interessieren die Künstlerin aufgrund ihrer Struktureigenschaften, der Farbgebung, der Glätte, der Dichte oder der seriellen Gleichförmigkeit. Indem Werres sich auf Materialeigenschaften konzentriert, die grundlegend für die Konstanzen unserer Wahrnehmung sind, vernachlässigt sie Arbeitsspuren oder Alterungsprozesse als visuelle Vorgaben. Werres arbeitet vielmehr mit den potentiellen Eigenschaften der Fundstücke unter Vernachlässigung ihrer zweckdienlichen Aspekte. Für die Rezeption sind rationale Überlegungen und kausale Verknüpfungen fehl am Platz. Der Betrachter erhält ein Angebot an seine sinnliche Wahrnehmung und die Option, neu sehen zu lernen. Für die Bodenarbeit hat die Künstlerin schwarzes Fugenband verwendet, das von weißen Schlaufen durchfädelt ist.

Aufgrund der dichten kreisförmigen Anordnung, die sich aus der Mitte wie eine übergroße Lakritzschnecke entwickelt, kommen die weißen Schlaufen ganz dicht zueinander und entwickeln ein dynamisches Moment. Der von oben auf die Arbeit schauende Betrachter kann sich der rotierenden Bewegung vergewissern, wobei es nicht klar ist, ob die schwarze Masse die weißen Schlaufen anzutreiben scheint oder umgekehrt.

Zusammen mit der Bodenarbeit hat die Künstlerin für einen Raum im Kunstmuseum Bonn drei Wandarbeiten installiert, die diaphanes Weiß, Gelb und Orange in unterschiedlicher Materialgebundenheit erscheinen lassen. Hier ist die Erfahrung der Farbe an die körperhafte Erscheinung gebunden. Sie erscheint in durchsichtigen, löcherigen Kunststoffbahnen, die vor der Wand und in den Raum hineinragend herunterhängen oder als gelbe Folie, die, einen Metallstab umspannend, an eine überdimensionierte Spindel erinnert. Das orangefarbene Wandobjekt läßt uns die Wanne aus dem Baubetrieb vergessen. Und die von der Künstlerin eingefügte Polsterung und die Anbringung an der Wand sorgen für die Mutation zur Skulptur.

Matthias Winzen
„Das Wichtigste ist, nichts wegzulassen“

Ein Gespräch mit Birgit Werres und Richard Artschwager
Katalog zur Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden
2000

Richard, warum war es dir so wichtig, den Namen der Ausstellung von Damenwahl in Daumenwolle zu ändern?

Richard Artschwager: Ich dachte, das wäre die freundlichste Art, um dieses Projekt herumzukommen, besser als zu sagen, das interessiert mich nicht. Das heißt nicht, daß ich mich verstellt habe - ich hatte eine spontane Reaktion auf Damenwahl, sowohl auf die Idee, wie auf den Titel. Vielleicht hat das mit kulturellen Unterschieden zu tun. Manchmal scheint Amerika fortschrittlicher zu sein, dann wieder Europa oder Deutschland vorne zu liegen. In Amerika hört sich Damenwahl altmodisch und schrullig an. Im Grunde genommen haben Künstlerinnen in Deutschland keinen Grund, nostalgisch vorzugehen. Also habe ich gesagt, ohne es allzu ernst zu meinen: Ich mache nur mit, wenn ich das Ganze Daumenwolle nennen kann. Später fand ich den Titel ziemlich passend für Birgit und mich. Birgits Arbeit hat eine sehr menschenzugewandte Seite. Die zwei »Daumen« stehen für das menschliche Element, zwei Menschen bei der Arbeit, zwei arbeitende Künstler. Um die »Wolle« zu erklären, muß man sich vorstellen, was Klassifikation oder Taxinomie ist. Es gibt die Spezies und die Population. Der Begriff Spezies ist eine platonische Vorstellung, eine abstrakte Idee. Zum Beispiel die Spezies »Sessel«: Die platonische Vorstellung »Sessel« hat keine Existenz - genau gesagt ist es die Vorstellung einer Population, die alle Sessel umfaßt, die je waren, sind oder sein werden, und ich füge hinzu, Sessel ohne Ende, Amen. Das ist die Population, das ist die »Wolle«. Ohne Ende.

Dich interessiert die »Wolle« mehr, das verwobene Material der konkreten Welt, als die abstrakte Idee, die Urstruktur.

R.A.: Oh, »Urstruktur« paßt doch gut für dich, Birgit, und mich als Team.

Was an Birgits Arbeit hat den Ausschlag gegeben, daß du für diesen Künstlerdialog zugesagt hast?

R.A.: Das war eine direkte Reaktion. Ich mochte ihre Arbeit. Ich finde die Arbeit interessant und fühle mich mit ihr verwandt, obwohl es ein gewisses Risiko gibt, was aber dazu gehört. Also mal sehen, was passiert.

Birgit Werres: Wenn man den Titel Daumenwolle liest, hat er im Deutschen etwas Subversives, etwas Nonsenshaftes, Spielerisches. Ich fand es gut, Richard, wie diese Wortschöpfung aus deiner Überlegung zu meinem Teil, zu deinem Teil und zu der gemeinsamen Arbeit entstanden ist und das Unbehagen auf den Punkt gebracht hat. Bezogen auf den ursprünglichen Titel Damenwahl und die ganze Geschichte, die an Damenwahl hängt, hebt Daumenwolle all das aus den Angeln, was wir beide nicht so gut fanden.

R.A.: Ich habe gar nicht damit gerechnet, daß das akzeptiert würde. Ich war total überrascht.

Vor einem Jahr habe ich Birgit zu einer Podiumsdiskussion in Düsseldorf eingeladen. Das Thema hing mit der Damenwahl-Reihe zusammen und Birgit sagte sinngemäß: Man muß Feminismus und Kunst unterscheiden. War das ein Aufstand im Publikum! Ich konnte gut verstehen, was sie meinte und war froh, daß sie diese Meinung in die Podiumsdiskussion hineingebracht hat. Aber das Publikum wollte so etwas in diesem Moment nicht hören und reagierte wirklich wütend.

B.W.: Für mich ist Kunst machen und Kunst betrachten in erster Linie nichts spezifisch Weibliches oder spezifisch Männliches. Ich kann nachvollziehen, Richard, was du über das Altmodische von Damenwahl gesagt hast. Ich bin nie zur Tanzschule gegangen und das war bestimmt kein Zufall. Ich denke, es geht weniger um Mann oder Frau, sondern um den Status und die Schwierigkeiten von Künstlern überhaupt. Der Tenor dieser Podiumsdiskussion war, daß es den Frauen in der Kunstwelt besonders schlecht geht und sie von vielen Positionen, wo es um Macht geht, ausgeschlossen werden. Das mag statistisch gesehen auch stimmen, aber ich glaube nicht, daß sich die Probleme oder dieses Unbehagen ändern, wenn man die Statistik ändert. Ich war wirklich überrascht, während dieser Diskussion in Düsseldorf. Es war unmöglich, konkret über konkrete Erfahrungen zu sprechen, weil alles so emotionalisiert war. Das erinnerte mich unheimlich an die siebziger Jahre Diskussion. Manchmal kommt mir das wie ein Versuch vor, eine bestimmte politische Gefühligkeit wieder zu beleben. Aber heute haben wir andere Voraussetzungen und brauchen dementsprechend neue Ideen. Denn es gibt nach wie vor viele Sachen, die heute gegen Frauen laufen.

R.A.: Wir sprechen aber auch über einen Beruf. Wir sprechen über Arbeit auf einem bestimmten Niveau. Es geht nicht ums Elitäre, weil man für Kunst noch nicht mal schreiben können muß, aber man muß sehen können. Wie man zu sehen lernt, ist wichtig. Das kann durchs Zeichnen passieren oder wenn man auf dem Land ist, oder durch 100.000 Jahre Jagen und Sammeln. Jagen und Sammeln - diese Lebensweise ist zweckorientiert und bringt eine hochentwickelte Weise des Sehens hervor, die nicht eindimensional ist, eine Art des Sehens, die über bloße Zweckhaftigkeit hinausgeht. Alles wird wahrgenommen. In der Kunst ist das Wichtigste, nichts wegzulassen, und daß auch die Elemente, die sich widersprechen, ins Bild oder Objekt aufgenommen werden. Das hört sich kompliziert an, ist es aber nicht. Ein spanischer Journalist hat mich einmal in einem Interview als erstes gefragt, obich Dinge herstelle, die die Gesellschaft kommentieren oder die einfach Raum einnehmen - entweder/oder. Das ist eine in sich problematische Frage.

Ich glaube, viele Fragen, die Künstler gestellt bekommen. sind selber viel problematischer als den meisten Fragestellern bewußt ist. Unreflektiert drängen solche passiv-aggressiven Fragen den Künstler in eine Schublade und überspringen. was du gerade über die vormoralische und vorpolitische, visuelle Wahrnehmung gesagt hast.

R.A.: Vorpolitisch und vor jedem Urteil - vielleicht läuft das auf dasselbe hinaus. Als Künstler erschafft man eine Ordnung, die aber total mißverstanden wird. weil man als Künstler die Ordnung als Versuchsanordnung benutzt, also nicht, um die Dinge durch eine Ordnung klein zu machen, sondern damit sich jeder Einzelaspekt entfalten kann -bis zu dem Punkt, an dem die Ordnung zerfällt.

Birgit. wann bist du das erste Mal auf Richard Artschwagers Arbeit aufmerksam geworden?

B.W.: Als Richard seine Ausstellung in der Kunsthalle Düsseldorf 1988 hatte. Das war das erste Mal, daß ich seine Arbeit sah. Da war auch The Question Mark.

R.A.: Das ist dir in Erinnerung geblieben?

B.W.: Ja! Und ich war sehr verblüfft über die Resopal-Arbeiten, die Holzimitation und die Malerei. Und einfach dieses massiv Gemalte, wie einem das richtig ins Auge knallte. Das ist mir sehr aufgefallen und in Erinnerung geblieben. Das Handwerkliche ist bei dir so klar, daß viele Leute deine Arbeit so interpretieren, als ginge es um minimalistische Reduktion und Klarheit, aber darum geht es nicht - oft geht es um Ironie, um Konstellationen, die es eigentlich nicht geben kann, die man aber skulptural, körperlich real vorgeführt bekommt. Es geht sehr oft darum, Ordnungsmuster anzugreifen.

R.A.: In meiner Arbeit kommt die Wahrnehmung vor dem Urteilen, was ermöglicht, daß einander widersprechende Aspekte in einem Bild oder Objekt bestehen bleiben können. Es geht um eine Art Wissen, das vor Sprache und vor Logik da ist. Oder: Die Logik ist Teil eines umfassenderen Wissens, wo alles vorkommen kann, ohne im Ja/Nein-Sinn einsortiert zu werden.

Birgit, als Künstlerin urteilst du über anderer Leute und deine eigene Arbeit. Woher begründen sich solche Urteile? Ist nicht Nordamerika für die jetzige Künstlergeneration in Deutschland das Hauptbezugsfeld, wenn es um Kunst geht?

B.W.: Nein, das sehe ich nicht so. Als ich in den achtziger Jahren anfing, war mein wichtigstes Bezugsfeld die amerikanische Kunst der sechziger und siebziger Jahre. Mitte der neunziger gab es eine Zeit, in der man mit dem, was damals künstlerisch aktuell war, publizistisch bombardiert wurde. Das war nicht die amerikanische Kunst, sondern eine bestimmte Sorte Medienkunst, in der meine Art, etwas zu sehen oder an etwas heranzugehen, keine Rolle zu spielen schien.

Richard, viele Künstler sprechen Einzelgruppen an und unter denen, die du erreichst, gibt es eine große Zahl von Künstlern. Mit anderen Worten, du bist ein Künstler-Künstler. Kunsthistorisch ist dein Werk jetzt schon ein wichtiges Herkunftsgebiet für viele jüngere Künstler.

R.A.: Das macht einen dankbar. Man möchte lieber ein Künstler-Künstler als ein Spekulanten-Künstler sein. Angefangen habe ich mit der Grundeinstellung, daß ich das nicht zum Geldverdienen mache und noch nicht einmal, um eine Karriere zu machen. Ich bin ein alter Mann. Ich habe die Kunst und die Wertschätzung für Kunst durch die Pariser Schule kennengelernt, durch Amedee Ozenfant, einen Weltkriegsexilanten aus Europa in New York. Dadurch habe ich eine Offenheit entwickelt - nicht alles davon stammt direkt aus Europa, aber viele Einsichten und Anregungen kommen daher.

B.W.: Das ist interessant. Für Deutsche meiner Generation ist es umgekehrt. Amerikanische Kunst ist wirklich das Hauptbezugsfeld.

R.A.: Das habe ich noch nie gehört.

Womit beginnt ihr eine Arbeit? Steht am Anfang eine Idee, ein fertiges inneres Bild, ein Bildplan, oder entwickelt sich eine Arbeit aus vorgefundenem Material, aus zufälligen Eindrücken, aus einem Fundstück?

B.W.: Es gibt bestimmte Materialien, die ich einfach klasse finde. Diese finde ich z. B. in Containern, beim Messebau, auf Baustellen, auf dem freien Feld. Dort ist der Fundus, mit dem ich hauptsächlich arbeite. Wenn ich dann etwas für eine Arbeit suche, stoße ich dabei oft auf anderes Material, was dann eine ganz neue Arbeit auslöst. Meine Ideen haben in erster Linie mit dem Material, der Farbe, der Stanzung, der Größe, der Art, wie etwas konstruiert ist, zu tun.

R.A.: Ich gehe durchaus von einer klaren Idee aus. Wenn ich eine Arbeit dann realisiere, passiert es aber, oder ich achte sogar darauf, daß die Idee nicht ungeschoren bleibt. Eine Arbeit wirklich zu bauen, heißt nicht einfach eine Idee auszuführen. Als ich die Blps gemacht habe, konnte man die begrifflich abgrenzen - sie hatten klare Ränder. Das war ein Umriß, der sich ins minimalistische Dogma einfügte. Das Loch oder der Fehler oder das Unkontrollierbare daran war, daß die Blps auf ihre Umgebung reagierten, und daß die Umgebung, das ganze visuelle Feld, ein wichtiger Teil eines Blps war. Aber der Blp war das Konstante. Es ist so, daß ich weitsichtig bin und eine Brille brauche. Und ich dachte, die Vorstellung, etwas unscharf zu sehen, müßte doch interessant sein. Wenn du zeichnest, besonders mit Kohle, kannst du mit der Hand die Kohle verreiben, das sieht dann unscharf aus. Wenn sich das auf ein anderes Material draußen übertragen läßt, ist das wirklich ein traumwandlerischer Zufall von Materialtauglichkeit. Jasper Johns hat gesagt, du machst etwas oder bekommst etwas und damit machst du dann etwas, es macht etwas und dann machst du wiederum daraus etwas. Das ist kompliziert, aber sehr fruchtbar.

Birgit, Richard, mir kommt es so vor, daß es einerseits in den Werken von euch beiden keine Handschrift gibt, andererseits aber die persönliche Autorenschaft unverkennbar ist.

R.A.: Du redest von Stil.

B.W.: Ich finde es sehr gut, wenn das Sortieren, das Wiedererkennen beim Kunstbetrachten, abgleitet und eine Arbeit keine Künstlerhandschrift hat.

R.A.: Man kann das nicht kultivieren. Es ist dumm, sogar zerstörerisch, die eigene Handschrift zu kultivieren. Ich glaube, da kann man Jasper Johns' Gedanken nehmen und in einen neuen Kontext stellen. Laß die Sache nicht so schnell wieder los. Du machst etwas und währenddessen lernst du, was du machst. Pack es nicht weg, verkauf es nicht direkt, laß es auf dich wirken. Deshalb finde ich Ausstellungen wie unsere hier wirklich fruchtbar, weil du dann viele deiner Arbeiten auf einmal siehst und du bekommst neue Ideen, was du als nächstes tun könntest.

Man könnte sagen, vorgefertigtes oder industrielles Material ist offensichtlich für euch beide attraktiv.

R.A.: Ja und nein. Du probierst, du benutzt, was du gerade zur Hand hast.

B.W.: Ich benutze meistens Industriematerialien, aber ich finde das Wort Industriematerialien nicht den richtigen Begriff dafür.

R.A.: Es klingt voreingenommen - eine Voreingenommenheit, ein Vorurteil.

B.W.: Im Grunde genommen ist es von Anfang an eine typisch passiv-aggressive Frage, von industriellem Material zu sprechen. Das sagt nichts, weil jeder schon eine fertige Vorstellung von Industriematerial hat.

R.A.: Damit wird gesagt, es hat nichts Eigenes, es ist vorgefertigt, also ist es schlecht.

B.W.: Das ist die totale Schublade.

R.A.: Andererseits muss man schon sagen, es sind exotische, exzentrische Materialien, die wir benutzen. Man kann einen Sonnenuntergang andeuten. Ich habe nichts dagegen, aber das reicht nicht zur Kunst.

Thomas Lange
„Haut“

Katalog zur Ausstellung „Birgit Werres - Frank Wurzer“ im Kunstverein Heinsberg
1999

Plastische Prozesse sind im Laufe des letzten Jahrhunderts aus dem hervorgegangen, was man bildhauerische Arbeit nannte und dieser selbst von je her eingeschrieben war. Die Herauslösung dieser Prozesse ist Verwandlung, deren Bewegung schöpferisch ist. Die Arbeiten von Birgit Werres und Frank Wurzer zeigen in dieser gemeinsamen Ausstellung eine Seite ihres schöpferischen Potentials, die nicht so sehr am Einzelnen abzulesen ist, sondern am jeweils Anderen, zu dem sie sich in Verhältnis setzen. Das gilt nicht nur im Zueinander der Arbeiten selbst, sondern im Besonderen in Bezug auf ihr Vermögen, Räume durch ihre Setzung zu verändern. Diese Veränderung geht von den Arbeiten selbst aus, indem sie die Umgebung einweichen und sich über sie ausdehnen, um ihrerseits Formungsenergie aus ihr zu lösen. Die Einladungskarte ist hier ein guter Wegweiser. Schon ihr Blick verwandelt Misthaufen, Himmel und Wiese, als gemeinsame Nenner landwirtschaftlicher Prospekte, in ein Bild, dessen Lesbarkeit das plastische Potential der Form- und Farbenergien an die Oberfläche bringt. Hier werden dann im Wahrnehmungsprozess Treckerspuren zu parallelen Vektoren, die abknickend Raum erschließen oder Wolken zu Valeurs, die das Plane eines Rechtecks in die Tiefe biegen. Hier werden die Grenzen des Abgebildeten zu Durchgängen, die sich zum Anderen öffnen. Das Andere ist immer das Bild, also die Wirklichkeit des Bildes. Diese entsteht aus schöpferischen Prozessen. Nur so kann sie eine andere Wirklichkeit, ihre eigene, behaupten.

Die schöpferischen Prozesse verwandeln Material, und das heißt jetzt: Substanz, Umgebung, Licht, Form, Farbe. Dieser Verwandlung haftet stets Erinnerung an; als Möglichkeit unserer Wahrnehmung, in die Prozesse einsteigen zu können. Das Erinnern als Element von schöpferischen Prozessen jedoch nimmt eine entschieden andere Richtung als etwa in der Archäologie oder der Paläontologie, in der Ähnlichkeiten zu Wesensbestimmungen verdichtet werden, um das Bekannte im Fremden zu fixieren. Hier dagegen dient das Erinnern dem Schwungholen der Wahrnehmung, um sich aus der Ähnlichkeit zu lösen und nie zuvor Bemerktes zu erfahren. Das wird deutlicher, betrachtet man die Konstellationen: Steinvorhang (Wurzer) und über schwarzen Gummistrang aufgerollte, mattsilbrig glänzende Folie (Werres), mittels Metallhalterungen an der Wand, knapp über dem Boden, befestigt.

Alles von Vorhängen Bekannte erstarrt in der Versteinerung: das Fließen des Stoffes, sein Fallen und leichtes Schleppen über den Boden, die Dichte des Gewebes wird undurchlässiger, das Gewebe gröber und fester, der Faltenschwung zu schroffen, steilen Klüften, Falte zu Spalte. Das Schützende wandelt sich zu massiv Verbergendem, wie überhaupt alle sinnliche Erfahrung verändert wird; mit den Augen ist dies zu bemerken. An seiner Oberfläche unzählige kleine Steine, deren Härte und Regellosigkeit das Gegenteil ihrer selbst formieren. In der Tier- und Pflanzenwelt, namentlich an ihren Übergängen, nennt man dies Mimikry. Die Steine bewahren ihr Wesenhaftes und zeugen von ihrem Gegenteil, dem Weichen, Fließenden, das sie wiederum selbst einst formte.

Werres Transformationen folgen den Eigenschaften des Materials und lösen dabei plastisches Potential heraus: die Folie umwickelt das Durchgängige des Strangs, die Horizontalität und Längsausrichtung beibehaltend; die Befestigungen an der Wand heben und halten das Umwickelte. Tieferes geht damit einher: das Licht wird zur modellierenden Kraft, erzeugt auf der Oberfläche der Folie Schwerelosigkeit und Dichte, die Halterungen markieren rhythmisierende Durchbrechungen und bringen so Zeitlichkeit in die Wahr-nehmung, der Raum zwischen Boden und Wand wird zu etwas anderem. Die Erinnerung an diese Wandstelle verfliegt genauso wie die an die Materialien selbst. Das Gebilde entfaltet organische Qualitäten, das Mechanische ihrer Verbindung zeigt sich im Licht der Oberflächenreflexe belebt wie gewachsene Übergänge. Organloser Körper, fließende Kräfte. Das Aufgerollte bricht immer wieder hervor, wird ähnlich dem Vorhang und wandelt sich in der partiellen Erinnerung zum Gemeinsamen des sehr Verschiedenen. Assoziationssprünge stellen sich ein: vom herabhängenden Vorhang zum aufgerollten Segel. Das ist im Übergang von Vorhang zu Segel dort sichtbar, wo das Segel das Aufgerollte ist, also die Zurücknahme seines Zwecks, den Wind fangend sich zu blähen und voran zu treiben - ein Erinnerungs- und Assoziationsfragment, das den sich entfaltenden Vorhang hineinnimmt. Oder der Übergang von Vorhang und Raum, den er trennt, abschließt, zweiteilt: der Spalt unten öffnet die Geschlossenheit des Vorhangs an unerwarteter Stelle, dort, wo Kontinuität sein müßte. Geht man um ihn herum, an ihm vorbei, so verändert sich in der Wahrnehmung seiner Rückseite auch sein Wesen. Kein Stein, kein Stoff, die Transformation zur Folie oder das Blähen schwarzer Segel, die Verbindung zum aufgerollten Licht auf der Oberfläche von Werres Arbeit. Möchten wir lieber den Bereich der Bilder verlassen, so kann man nüchterner konstatieren: Hier stoßen differenzierte Raum- und Körpererfahrungen aufeinander, um Einsichten in Bereiche der Wahrnehmung zu öffnen, in denen das Phänomen der physischen und optischen Grenzen korreliert.

Die andere Konstellation: „Treckerreifen“ (Wurzer) und „rotes Schlauchartiges“ (Werres).

Auch hier geht es um Verwandlungen, um Metamorphosen und Transformationen. Man kann dem auf die Spur kommen, indem man ganz langsam die Elemente buchstabiert: Erde und Kunststoff, das eine formlos und damit formbar, das andere bereits geformt und zur gewöhnlichen Gieskanne erstarrt. Die Transformation des Formbaren und Geformten in eine echte Verwandlung (Metamorphose) gelingt über eine zweifache Annäherung: das Zusammenstellen der Kannen um einen imaginären Achsenpunkt, auf den ihre Ausgieß- stutzen zeigen, macht sensibel für Details: Kurvaturen werden sichtbar; die Wiederholung ihrer formalen Strukturen teilt sich in der Gesamtansicht und formiert die einfache Grundfigur: den Kreis. Die Verbindung der Erde mit der neuen Kreisstruktur festigt diese; und im Verfestigen, in der allmählichen Verwandlung der formbaren Erde zu erstarrter Form, bildet sich strukturelles Profil. Wenn man so will, verkehren sich die Ebenen, nun lehnt es an der Wand, nun ist das Kreisen zur Ruhe gekommen, und Material wie Farben lassen die Assoziation des Betrachtenden ganz allmählich im Bild springen: Treckerreifen, Turbine, dabei immer die Mechanik des Drehens erhaltend, als von der Struktur generiertes Bild. Gegenüber das Andere: schwebend, schaukelnd, von der Decke herabhängend, als müsse es auch diese letzte Unbenannte der Raumkoordinaten zu Boden und Wand in den Blick holen. Wiederholtes Stauchen und Drehen der Folie formt eine strukturelle Iteration heraus, die sofort das Licht wieder hineinnimmt zu einem seltsamen Versteckspiel des Rot, welches sich in vielfachen Schattierungen herauszulösen scheint aus der Hülle, durch die es selbst erst ist. Wie der Kokon eines seltsamen Tieres - von Leben bewohnt, das den Blicken verhüllt ist - hat hier das Organische, noch den Luftzug aufnehmend und pendelnd (ganz unmerklich fast), an der Tonalitätsverschiebung der Farbe teil. Beide Arbeiten zeigen Annäherungen an jene Grenzen, an denen sich Organisches und Anorganisches berühren und an denen sie beginnen, Übergänge auszubilden. Diese Übergänge sind auch solche in die Wirklichkeit des Bildes. Denn nur hier scheint es sinnvoll, von Annäherung und synaptischen Übersprüngen zu sprechen, die den einen mit dem anderen Bereich vermitteln. Denn die Ununterscheidbarkeit dieser ursprünglichen Unterscheidung führt geradewegs in das Wesen dieser Kunstwerke oder aller Metamorphosen. Worin dies liegt kann an Wurzers Zaun abgelesen werden. Der normale Jägerzaun ist das vorgefundene Material, ist Segment, das in Bewegung gebracht wird. Es handelt sich auch hier um eine Bewegung der komplexen Art: die Faltung. Die Mechanik der Einfaltung erzeugt eine Potenzierung der Komplexität der Struktur. Das sind die Bewegungen der Einfaltung: von der Linearität der zweidimensionalen Grenze, die der Zaun nun einmal im Gartenkontext ist - Grenze, die sein Terrain zu erkennen gibt und es von anderen künstlichen Terrains, von anderen Gärten oder Parkplätzen abschirmt - zum dreidimensionalen Körpergitter, von der Horizontalen in die Senkrechte gedreht. Die Verwandlung erzeugt optische Übergänge, die aus Ähnlichkeiten bestehen: Säulen, Knoten, iterative Muster, die nicht wirklich mechanisch verbunden sind oder gesetzt wurden. Diese Verwandlungsarbeit kann ihre Gestalt verändern, ihr Wesen ist Übergang von Scharnier und Addition, Ein und Ausfaltungen. In der Erinnerung des Betrachtenden ergeben sich hier wieder Bezüge zu Werres roter, organischer Faltung. Und das Unterscheidende beider wird deutlicher: in Werres Arbeit ist das Mechanische der Faltung schon ganz aufgelöst in der starken Ausbreitung des Gewachsenen, des organischen Verschmelzens von Faltung und Lichtreflex, die in der Auflösung der Folie diese kokonartige Gestalt herausbilden und die selbst bis in die Oberfläche ihrer „Haut“ von der Lebendigkeit der Farbe durchzogen ist. „Haut“ könnte man auch das nennen, was aus dem plastischen Prozess entstehend jene Schnittstelle ausbildet, an der Betrachtender und Betrachtetes sich aufs Äußerste annähern und Wahrnehmung entsteht.

Hannelore Kersting
Katalog zur Ausstellung im Städtischen Museum Abteiberg, Mönchengladbach

1992

Blaue Plastiksäcke als Päckchen in einem gelben Netz; ein Bündel roter Kabel, das aus den offenen Enden einer hellgrauen Metallröhre ragt; grün eingefärbte Fahrradschläuche, auf waagerechten Halterungen an der Wand zu Röhren aufgereiht; runde Bohrkerne, mit Hilfe von Holzwolle zu einem Stapel aufgeschichtet die lakonischen Werke von Birgit Werres sind von sprödem Reiz. Vor allem Produktionsstätten, Lager und Umschlagplätze der Industrie sind Orte, an denen sie unterwegs Material entdeckt, wobei die Auswahl nach formalen Kriterien erfolgt, unabhängig von der ursprünglichen Funktion. Ausschlaggebend ist für Birgit Werres die Wahrnehmung, die durch langjährige Erfahrung im Umgang mit unterschiedlichsten Materialien sensibilisiert ist und den Blick geschärft hat für das Wesentliche formaler Beschaffenheiten. Es ist kein gezieltes Suchen nach bestimmten Gegenständen, um konkrete Vorstellungen zu realisieren. Es ist im Gegenteil ein eher beiläufiges Finden, ein herausgeforderter Zufall, wenn sie auf Dinge stößt, die ihr Interesse wecken und die einen langwierigen Prozeß der Auseinandersetzung und Annäherung auslösen. Im Atelier, wo sie das Material ständig um sich hat, wo sie es genau beobachten und damit experimentieren kann, analysiert sie die äußere Erscheinung, ihre Wirkung auf den, der sie betrachtet und deren Ursachen, bis sich allmählich die besonderen Eigenarten herauskristallisieren. Für die en Schritte, die sie unternimmt, sind nicht nur die so gewonnenen Erkenntnisse entscheidend, sondern auch Anregungen aus alltäglichen Situationen fließen in abgewandelter Form in die Werke ein. Birgit Werres' Interesse gilt nämlich nicht allein den Gebrauchsobjekten selbst, sondern auch ihrem geläufigen 'Kontext, in dem wir sie zu sehen gewohnt sind, oder den strukturellen Bedingungen, unter denen größere Mengen von ihnen organisiert sind. Gelegentlich hält sie Materialien, die ihr spontan auffallen, in Fotos und Skizzen fest, um sich auch später noch daran erinnern und eigene Ideen daraus entwickeln zu können.

In Industriegebieten, auf Baustellen und in Kaufhäusern etwa werden Massen von Materialien auf vielfältige Art und Weise aufbewahrt. In größeren Mengen angesammelte Dinge befinden sich dabei zumeist in einem Zustand der Ruhe, der ihrer eigentlichen Bestimmung nicht gerecht wird, da sie entweder auf ihren Einsatz warten oder aber ausrangiert sind. Für einen industriellen Gebrauchsgegenstand, der für einen bestimmten Zweck konstruiert wurde, definieren sich Funktion und Identität im allgemeinen aus einem exakt kalkulierten Zusammenspiel mit anderen Teilelementen innerhalb eines größeren, übergreifenden Systems. Wird ein Gegenstand aus dem System entfernt, für das er ursprünglich geschaffen wurde, sieht er sich anderen Gesetzen und Bedingungen unterworfen. Geht es beispielsweise um Fragen der Lagerung, sind es wiederum zweckorientierte, ökonomische Gesichtspunkte, die über Möglichkeiten einer Platz sparenden oder übersichtlichen Aufbewahrung entscheiden, sofern man sich nicht einfach "irgendwie" der Dinge zu entledigen sucht. Durchschaubare, raffiniert konstruierte Ordnungssysteme sind also ebenso zu finden wie chaotische Strukturen, wobei sich in der Beschaffenheit der Dinge und im Umgang mit ihnen indirekt auch strukturelle Unterschiede des jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes widerspiegeln. Die Art des Stapelns, Reihens, Häufens oder Schichtens hat formale Besonderheiten des Objektes zu berücksichtigen. Sie hat beispielsweise zu verhindern, daß runde Formen in Bewegung geraten, und sie muß einkalkulieren, daß kleinere oder fragmentarische Elemente in Kartons und Kisten zu größeren Einheiten zusammengefaßt werden können etc. Außerhalb ihrer Funktion, die nunmehr zu einer potentiellen Eigenschaft wird, lenken die Gegenstände den Blick verstärkt auf ihre äußere Gestalt und die formalen Bedingungen, die den Umgang mit ihnen diktieren. Eine größere Anzahl gleicher Dinge vermag ein genaueres Sehen zu provozieren, da sie einen unmittelbaren Vergleich zwischen den einzelnen Elementen erlaubt. Diese sorgfältige und subtile Differenzierung zwischen den allgemeinen Beschaffenheiten einer spezifischen Art von Gegenständen und den besonderen, von der Norm abweichenden Eigenschaften eines einzelnen Elementes bewirkt, daß sich die auf den ersten Blick vermeintlich gleichen Dinge bei sorgfältigerem Hinsehen als ähnliche zu erkennen geben.

Birgit Werres erhält aus einer höchst aufmerksamen, konzentrierten Betrachtungsweise Aufschlüsse über Charakteristika eines Gegenstandes. Für diese individuelle, selektive Sichtweise gilt es eine adäquate Präsentationsform zu finden. Die Materialien, die sie verwendet, werden durch gezielte Eingriffe mehr oder weniger stark verfremdet und interpretiert. Die materielle Substanz der Gegenstände kann dabei in selteneren Fällen gänzlich unangetastet bleiben, so daß allein die Lösung des Objektes aus seinem vertrauten Umfeld und eine Präsentation in einem ungewohnten Rahmen das Erscheinungsbild und die Wahrnehmung davon in einem solchen Maße verändern, daß die Identität des Gegenstandes in Frage gestellt ist, beziehungsweise der Eindruck entsteht, mit einem völlig neuen, bislang unbekannten Gegenstand konfrontiert zu sein. In vielen ihrer Werke kombiniert Birgit Werres die Dinge mit einem en, anders gearteten Element, das als Interpretament dient, indem seine spezifische Beschaffenheit in der Kombination mit dem Ausgangsmaterial gerade die Kriterien nutzt und vergegenwärtigt, die herausgestellt werden sollen. Eine Anzahl von flachen, runden Steinen etwa wird hochkant nebeneinander gestellt. Ein gelbes Moniereisen hindert die Steine nicht nur am Fortrollen, sondern es bestimmt auch ihre Abstände zueinander und damit das Prinzip ihrer Anordnung. Das Gestänge verdeutlicht optimal die Instabilität der runden Form ebenso wie das Gleichmaß der additiven Reihung, so wie die Steine wiederum die regelmäßige Untergliederung des Eisengestells in gleiche Abschnitte und seine Halt gebende, verbindende Funktion veranschaulichen. Es entsteht ein enges, dialektisches Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit, das aber dennoch offen ist für subjektive Anschauung und Auslegung. Ähnlich wie bei einer Collage, die der Surrealist Max Ernst in seiner berühmten Definition als das Zusammentreffen zweier scheinbar wesensfremder Elemente auf einer ihnen ebenfalls wesensfremden gemeinsamen Ebene bezeichnete, wobei sich an diesem Zusammentreffen die Poesie entzündet, gilt es auch hier zwischen den Zeilen zu lesen. An die Stelle eines eindeutigen Sachverhaltes tritt Mehrdeutigkeit, denn sinnliche Qualitäten der formalen Beschaffenheiten und inhaltliche Bedeutung (bzw. Funktion), die einem bestimmten Gegenstand der Übereinkunft und der Gewohnheit gemäß im allgemeinen zugestanden wird, lösen ihre konventionelle Verklammerung und verschieben sich gegeneinander. Ihre Verselbständigung und Entfremdung erzeugt nicht nur spürbare Reibungen, sondern durch die neu gewonnene Distanz werden auch Freiräume geschaffen für Anspielungen und Assoziationen, ohne daß sie ausdrücklich artikuliert sein müßten. Ein Element beeinflußt die Deutung des anderen und umgekehrt, so daß ein Werk in diesem Sinne eine erzählerische, gelegentlich humorvolle Komponente erhalten kann. Das Material wird deshalb nur selten isoliert gezeigt. Meistens ist es eingebettet in einen interpretierenden Zusammenhang ohne allerdings mit diesem zu einer nahtlosen Einheit zu verschmelzen.. Kontaktstellen und Brüche bleiben zumeist latent wahrnehmbar, so daß die Entscheidung für die Auswahl der Objekte und für ihre spannungsvolle Zuordnung zueinander um so anschaulicher als ein bewußter und gewollter Akt der künstlerischen Gestaltung deutlich wird. Für einige ihrer Werke fertigt Birgit Werres das Material insofern selbst, als sie Teilstücke zunächst zu größeren Formen kombiniert, bevor sie diese verarbeitet. Dachziegel und Isolatoren beispielsweise fügt sie mit Hilfe von Gips zu eigenwilligen Objekten zusammen, von denen sie mehrere in einer schützenden Ecke des Raumes aufstellt, wobei die gewölbten Flächen der Ziegel abweisend nach außen gekehrt sind. Die Schicht aus Gips ist jeweils rosa eingefärbt. Sie verbindet die gegenständlichen Elemente (Ziegel und Isolatoren) zu einer größeren, übergreifenden Form, ohne daß die nunmehr zusammengefügten Objekte ihre ursprüngliche Eigenständigkeit vollständig aufgeben.

In fast allen Werken von Birgit Werres hat die reale oder auch künstlich durch Pigmente erzeugte Farbe die Funktion, Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen der Strukturen zu artikulieren, so daß sie Wesentliches der formalen Beschaffenheiten vergegenwärtigt. Indem sie Akzente setzt, Positionen markiert, Verbindungen herstellt, Trennungen bewirkt und somit Zusammenhang nicht nur offenlegt, sondern auch stiftet, veranschaulicht sie die Intentionen, die Birgit Werres dem Werk zugrundelegte und die somit transparent bleiben. Trotz dieser Aufforderung zu genauerem Hinsehen lassen sich Zusammenhänge und innere Konsequenz subjektiver Entscheidungen der Künstlerin wie etwa Auswahlkriterien für das Material und seine Farbe oder Fragen nach der formalen Notwendigkeit bestimmter Mengen und deren Begrenzungen allenfalls erahnen. Eine schlüssige, allgemeinverständliche und nachvollziehbare Begründung bleibt dem Betrachter bewußt vorenthalten.

Oft sind es recht heterogene Elemente, die auf den ersten Blick scheinbar willkürlich zusammengefügt sind, doch liegt gerade in dieser Kombination verschiedenartiger Komponenten ein besonderer Reiz der betont unspektakulären, vermeintlich einfachen Objekte, die gelegentlich so selbstverständlich wirken, daß sich ihre Komplexität erst mit Verzögerung dann allerdings umso nachhaltiger offenbart. Der Betrachter wird in einen spannenden Zwiespalt versetzt, denn einerseits stellen sinnliche Qualitäten, die sich unmittelbar über die visuelle Wahrnehmung mitteilen, einen direkten emotionalen Bezug her, dem er sich kaum entziehen kann. Andererseits ist er irritiert, denn trotz ihres individuellen Erscheinungsbildes und ihrer eindringlichen Präsenz erinnern die Werke vage an Ähnliches, das er schon einmal gesehen hat. Diese Ambivalenz beruht nicht zuletzt darin, daß reale Gebrauchsmaterialien in die Werke einbezogen sind und daß Birgit Werres Situationen erzeugt, die auf Zusammenhänge des täglichen Lebens verweisen, obwohl das Verweigern zweckorientierter Funktionen und die Subjektivität der künstlerischen Gestaltung gerade eine Distanzierung beinhalten. Ein zumindest ansatzweises Erkennen des Realitätsbezuges ist jedoch wesentlich, um das Abweichen davon um so anschaulicher erfahren zu können.

Die Lösung der Gegenstände aus ihrer Funktion und ihre Integration in einen andersartigen, künstlerischen Kontext schaffen eine befreiende Distanz. Dient Ordnung generell der Orientierung, so erlauben ungewohnte, originelle Zuordnungen, die aufgrund subjektiver Entscheidungen einer eigenen Logik folgen, eine anregende Neuorientierung vermittels der sinnlichen Erkenntnis. Birgit Werres definiert in ihren markanten Werken das Verhältnis von Form und Funktion neu. Entscheidet bei einem alltäglichen Gebrauchsgegenstand die Funktion über die Form, so ist es nunmehr die formale Erscheinung des Dinges, die seine Auslegung und den Umgang mit ihm bestimmt. In dieser unvoreingenommenen Sehweise, die von dem Zwang zu funktionalem Denken befreit, die von der Bereitschaft getragen sein muß, Fragen offen zu lassen und nicht alles verstehen und begründen zu wollen, beruht die Kreativität dieser Künstlerin. Die Veränderung der äußeren Bedingungen und Befindlichkeiten modifiziert das Erscheinungsbild und erlaubt damit auch eine Veränderung der Sichtweise. Die Differenzierung des Zusammenspiels von Form und Funktion bedeutet deshalb nicht nur eine Bereicherung der Anschauung, sondern sie wird zugleich zu einem Korrektiv für festgefahrene Sehgewohnheiten.

Thomas Lange
Katalog zur Ausstellung „Elisabeth-Schneider-Preis“

1992

Jener Betrachter, der sich mit leichtem Vorwurf in der Stimme zu der vorschnellen Bemerkung hinreißen ließ, die Arbeiten Birgit Werres seien ja nichts „Gemachtes“, hat damit ein ihnen Wesentliches erkannt: Der Gegenstandscharakter dieser „Dinge“ steht vor der Ablesbarkeit ihres künstlerischen Gefertigtseins. Die Arbeiten tragen eine Selbständigkeit vor, welche die künstlerische Handschrift negiert. Das Fehlen der Handschrift, jener Spur des sich ins Werk eingeschrieben habenden Subjekts, ist ein gängiges Kriterium, die Frage nach dem Kunstwerkstatus (und damit der Leistung des Künstlers) aufzuwerfen.

Beides soll in folgender Überlegung bedacht werden. Die Frage also lautet: Wie ist diese Selbstund Eigenständigkeit zu erklären (was macht sie aus) und inwiefern sind die Arbeiten Ergebnis einer künstlerischen Leistung (wie sieht diese aus, worin ist sie begründet)?

Die Ausgangsmaterialien der Arbeiten sind vorgefundene, zufällig die Aufmerksamkeit auf sich ziehende Gegenstände des Alltagsgebrauchs, des Haushalts, der Industrie: Stahlkabel, Plastikfolien, Fußabtreter, Plastikformteile und vieles mehr. Die Materialien werden mit den Augen gefunden, nicht mit Hilfe des Vorwissens um bestimmte physische Eigenschaften und deren Verwendbarkeit im Arbeitsprozeß. Ihre sinnlichen Qualitäten, ihre Formen, Farben, Strukturen und Oberflächen werden zunächst nur optisch wahrgenommen. Das Handanlegen, jenes im herkömmlichen Sinne dem Bildhauer eigene Verfahren, ist ein späterer, z, nachfolgender Arbeitsschritt. Wenn dieser einsetzt und das tut er, denn diese Arbeiten sind „Gemachte“ dann nur unter einer besonderen Bedingung, die im Beschauen des Materials sich enthüllt. Das den jeweiligen Gegenständen eigene Wesen gibt das „Wie“ ihrer Behandelbarkeit vor und fordert die Beachtung ihrer spezifischen Eigenschaften und Qualitäten. Dieses Inruhelassen des Materials ist ein zweifaches: Im Beschauen erst öffnet sich ein Zugang zu seinem Wesen, daraus folgt dann eine Behandlung, die dem Material selbst nicht fremd ist. Der künstlerische Prozeß (die Umsetzung, die Realisation) also sucht das Spezifische des Ausgangsmaterials zu wahren, nicht zu vergewaltigen.

Das Ausgangsmaterial selbst aber ist schon Geformtes, Gemachtes. Es sind Gegenstände, die dem Bereich der „Nichtkünstlerischen Wirklichkeit“ angehören. Ihr Aussehen, ihre Form, ihre Erscheinung ist notwendige Folge des Zwecks, für den sie hergestellt werden. Ihre Funktionsfähigkeit im Gebrauch ist oberstes Prinzip ihrer Erfindung.

Das eingangs beschriebene Umgehen mit diesen Gegenständen im künstlerischen Prozeß wahrt die Zugehörigkeit zur alltäglichen, „Nichtkünstlerischen Wirklichkeit“. Diese Zugehörigkeit der Ausgangsmaterialien ist den Arbeiten hin abzulesen, sie wird in der Regel rasch erkannt und läßt sich im Einzelnen auch benennen.

Doch gerade indem in diesen Arbeiten dieser oder jener Gegenstand der Alltagswirklichkeit wiedererkannt werden kann, werden sie fragwürdig. Schon die erste Begegnung mit ihnen enthüllt etwas Fremdes, Unheimliches. Das ist wörtlich zu verstehen. Das Wiedererkennen birgt ein Nichtwiedererkennen. Denn vertraut sind diese Gegenstände nur im Gebrauch, nur wenn wir mit ihnen umgehen. Die Begegnung mit diesen Gegenständen in diesen Arbeiten als diese Arbeiten aber verweigert den vertrauten Umgang. Es bleibt nurmehr die Möglichkeit des wiedererkennenden Benennens. Doch das Erkennen und das damit einhergehende Benennen der Ausgangsmaterialien entlarvt sich schnell als blinde Tür, die keinen Zugang zum Werk freigibt.

Die Bezeichnung enthüllt jetzt, was sie ist: notwendiges Mittel sicherzugehen, sich über einen konkreten Gegenstand zu verständigen, nicht aber diesen zu begreifen oder zu erfahren. Bezeichnungen, Namens-gebungen sind hier nicht Sinngebungen. Das Wesen der Arbeiten bleibt von ihnen unberührt.Das Leerlaufen der Begriffe erst setzt den Blick frei, plötzlich erhellt sich das Verhältnis Beschauer Werk: Das Ausgangsmaterial ist nunmehr Sehangebot, die Bezeichnung, das Gewußte verschwindet hinter den sinnlichen Qualitäten der Oberflächen, Farben, Formen und Strukturen.

Hinter Birgit Werres Arbeiten steht eine Sehhaltung, welche Phänomene der „Nichtkünstlerischen Wirklichkeit“ ästhetisch erfährt. Die dem Hervorbringen dieser Arbeiten inhärente Reduktion und Konzentration auf das sinnliche Erfahrungspotential der als ästhetische Phänomene begriffenen Gegenstände beschreibt eine Haltung und gibt dem Beschauer (nur dem freilich, der sich darauf einläßt) eine Haltung zur Einsicht in der allein „Kunst“ zum Bewußtsein kommt.

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